Herzmenschen

Im Nichts schweben

Wir schweben noch. Sind irgendwo zwischen dem Hier und dem Jetzt aus der Bahn gebrochen und haben den Weg hinter uns gelassen. Die Luft hat wieder diese seltsame Konsistenz, rötet die Augen. Am Fahrtwind kann das ja nicht liegen, schließlich schweben wir mit kaum wahrnehmbarer Geschwindigkeit durch die Dimensionen unserer Vorstellungskraft, machen Quantensprünge auf der Stelle, während wir uns im Kreis um unsere Gedanken drehen, bis wir leichten Schwindel spüren. Dabei strecken wir die Arme aus, um mit den Fingerspitzen die Erdrotation wahrzunehmen. Wir haben einen Pakt geschlossen: Unsere Gefühle bleiben nicht verborgen, wir schlucken nichts herunter, unsere Herzen sollen schweben wie Daunen, im Dunkeln werden wir uns Licht sein und Wärme in der Kälte und Körper in der Leere. Wir verschmelzen im Nichts, sind Moleküle eines Atoms, knacken die DNS der Liebe, füreinander, für immer, für uns - für dich, Natalie.

Tränenmanufaktur

Und eh man sich versieht, sitzt man wieder in einem Krankenhaus und wartet darauf, dass sich eine Tür öffnet. Man malt sich aus, welchen Gesichtsausdruck die Ärztin tragen wird. Die Tränen können kaum noch gehalten werden, unter der Haut kribbelt die Unruhe und das Herz ist schwer und poltert in der Brust herum. Eine schwitzige Hand greift nach einer anderen und sucht Halt, den niemand geben kann. Die Zeit zieht sich und die Erde macht dieses nervenraubende Geräusch beim Drehen, eben weil sie sich ja langsamer dreht als sonst, natürlich aus purer Bosheit. Man malt sich das Schlimmste aus und weiß eigentlich gar nicht mehr, was das Schlimmste ist. Wohl die Nachricht, dass es zu Ende ist, dass man einen weiteren geliebten Menschen ab heute nur noch im Herzen trägt, dass man nach Hause gehen muss und einer Elfjährigen sagen muss, dass ihre Mama... ja was? Erlöst ist? Und dann weiß man wirklich nicht mehr, was das Schlimmste wäre. Vielleicht auch doch, wenn sie durchkäme? Wenn die Ärzte die Lunge retten könnten? Um in der nächsten Woche zu sehen, dass die Nieren versagen oder das Herz? Man liebt diesen Menschen so sehr, mehr fast als das eigene Leben, und man hält die Hand des anderen geliebten Menschen, der neben einem sitzt, noch etwas fester, erhöht den Druck, auch den auf die Tränendrüsen und lässt es irgendwann einfach laufen. Und dann weiß man, dass man dem anderen keine Hilfe ist. Aber manchmal ist gerade das eine Hilfe: gemeinsam verzweifeln, gemeinsam kurz ins Nichts schweben, gemeinsam den Druck ablassen, gemeinsam die Hoffnung kurz fahren lassen um sie gemeinsam wieder einzufangen, gemeinsam die Krankenhausgänge überfluten mit all seinen Sorgen und all den Tränen, die der Körper scheinbar mühelos nachproduziert.

verlieren

Ich wusste es! Das Glück ist zu präsent geworden. Seit einigen Wochen blitzt es immer wieder unerwartet aus Winkeln und Ecken auf oder zieht sich sogar lasziv durch ganze Tage. Ich will mich dem Glück hingeben, bleibe aber vorsichtig. Zu groß ist die Angst, dass es mich nicht nur wieder verlassen könnte, sondern mich womöglich auch verhöhnen würde, dass ich der Illusion wieder einmal aufgesessen bin. Ich und glücklich sein, pah! Die Sorge wohnt wahrscheinlich hinter der Tapete oder unter der Fußleiste des Schlafzimmers. Des nachts strömt sie manchmal wie ein giftiges Gasgemisch hervor und überrascht mich im Schlaf, indem sie sich mein Herz krallt und quetscht.

Meine größte Angst ist, den zu verlieren, an den ich vor fast zwei Jahren erst meinen Kopf und nach und nach mein Herz und auch den ganzen Rest von mir verlor, der erst zweifelte und zögerte, inzwischen aber die Zukunft bejaht und fordert - unsere Zukunft.

Aber mein Herz wäre nicht mein Herz, wenn es nicht eine Massenunterkunft wäre. Zu eng ist es nicht da drinnen, sondern muckelig warm. Meine Herzmenschen sind mein Motor, meine Liebe ist facettenreich - innig, bedingungslos, manchmal auch verzweifelt und sie überdauert sogar den Tod. Ohne meine Herzmenschen wäre ich nichts. Ein jeder von ihnen ist unendlich wichtig, ist Heimat. Einige verlor ich, als ich 12, 18, 27 und 34 war. Nach jedem Verlust habe ich mich aufgerappelt, weil ich sie trotzdem noch spürte, Kraft von ihnen bekam.

Im letzten Jahr erfuhr ich kleinere Verluste, die mich jedoch viel stärker trafen als alles bisher. Kann das Ende der Leidensfähigkeit irgendwann tatsächlich erreicht werden? Der Verlust meiner Stärke, der Verlust meiner Selbst - ich habe mich verloren, war am Ende, ein Häufchen Elend, weil etwas in meinem Herzen faul geworden war. Und auch wenn es mir heute wieder besser geht, weiß ich nicht, ob ich noch einen Verlust überstehen könnte. Ich klammere mich an jeden Halm, den ich zu fassen bekomme, jede Zurückweisung bricht mir das Genick. Wieder und wieder.

Und plötzlich ist die Gefahr zum Greifen nah. Ein Herzmensch ist krank, ist am Ende. Beste Freundin, schwesterngleich, die Angst, sie zu verlieren frisst mich auf. Und vielleicht, weil ich inzwischen herausgefunden habe, wie es sich anfühlt, körperlich und seelisch an einem Punkt angekommen zu sein, an dem es nicht mehr weitergeht, trifft mich das, was da passiert, mit voller Wucht. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass noch zwei weitere Herzmenschen unter der Situation leiden und die eine, mit elf Jahren eindeutig zu jung für diese Situation, mich aus roten Augen ansieht und ich mich selbst sehe, voller Sorge um meinen Vater, der - ein Schatten seiner selbst nur noch - gegen ein übermächtiges Monster in seinem Innern kämpfte, und ich, hilflos zusehend, irgendwann nicht mehr wusste, ob ich mir wünschen soll, dass er es besiegt, oder ob es besser wäre, wenn er sich ergibt.

Zu viele rote Augen. Zu viel Leid. Zu viele Verluste. Zu wenige Kraftreserven. Zu groß der Wunsch, endlich mal einfach nur glücklich sein zu dürfen. Zu groß die Angst, es nie sein zu können. Und von unter der Fußleiste im Schlafzimmer strömt ganz langsam leise Panik, dass etwas passiert, das mir das Genick bricht, aber eben wieder nicht endgültig.

...

Ich finde mich langsam wieder. Die tiefen Einschnitte des letzten halben Jahres konnte ich mit emotionaler Ausgleichmasse provisorisch kitten. Es reicht, um wieder zu existieren. Es gibt Tage, an denen ich glücklich bin. Komplett glücklich. Dann sind da wieder Tage, durch die sich ein paar Tränen ziehen, und Tage voller Rotz und Wasser. Aber die werden immer seltener. Der eine Grund für Tränen rückt in den Schatten, der andere lässt sich zurechtweisen und verliert an Wichtigkeit. Die Tage werden trockener und - ganz März - heller und freundschaftlicher. Doch plötzlich fällt der Blick auf den Kalender und Kälte umkrallt das Herz. "Es wird einfacher mit den Jahren!" wollte man mich beruhigen. Heute sind es 20 Jahre und es ist kein bisschen einfacher. Ich zieh die dicke Decke etwas fester um Körper und Herz und schmiege mich gemeinsam mit der Zukunft in die Vergangenheit. Du fehlst mir, Ben. Heute kein bisschen weniger als vor 20 Jahren.

salzlamm

Von Wunden und Narben und Wundern und Farben

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